Samstag, 6. Juni 2015

Muttermilch



Vorzüge der Muttermilch Mamas Wundercocktail

Muttermilch ist viel mehr als nur Nahrung: Sie ist bislang das einzige erfolgreiche Functional Food. Stillen fördert die Gesundheit des Säuglings, beeinflusst seine Intelligenz und möglicherweise seinen Charakter.

Von Nike Heinen

14.8.2012

Die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, sie fängt schon bei den allerersten Mahlzeiten an. Männliche Babys genießen an Mutters Brust einen luxuriösen Cocktail erlesener Nährstoffe mit nahrhaften Fettsäuren und wertvollen Proteinen; in der Stillmilch der Babymädchen fehlt es hingegen am besonders wertvollen Milchzucker.

Evolutionsbiologen begründen diese Zweiklassenfütterung mit der üblichen, einfachen Erklärung: Weil Männer theoretisch zahllose Kinder zeugen können, die Schwangerschaft der Frauen aber Monate dauert, versprechen Söhne das bessere Enkelsaldo. Aus der Sicht der mütterlichen Biologie sind die wertvolleren Nährstoffe demnach bei Söhnen besser angelegt - investiert wird in die Zukunft der eigenen Gene, bei Männern lockt die höhere Rendite.
Die unterschiedlichen Nährstoffanteile sind nur ein Beispiel für die neuen Erkenntnisse, die Wissenschaftler in den vergangenen Jahren über das Stillen gewonnen haben. Ihre Kerneinsicht: Die Menschenmilch schlechthin gibt es nicht. Je nach Geschlecht des Babys, seinem Alter, den Lebensumständen der Mutter und vielen anderen bisher unbekannten Faktoren ändert sich die Zusammensetzung der Milch. Und mit ihr verändert sich die Zukunft des Kindes.

Mittlerweile unbestritten ist, dass Muttermilch viel mehr ist als ein Nahrungsmittel. Es ist das einzige bis heute nachweislich erfolgreiche Functional Food, vollgepackt mit bioaktiven Inhaltsstoffen, die auf zentrale Stellgrößen im Körper Einfluss nehmen. Der Trunk aus der Mutterbrust ermöglicht Säuglingen Bakterien und Viren abzuwehren, schafft oder verhindert Anfälligkeiten für bestimmte Krankheiten, verändert die Aktivität ganzer Gengruppen. Es könnte sogar sein, dass Muttermilch den Charakter des Kindes moduliert, ganz sicher beeinflusst sie die Intelligenz.
Die einzigen solcher Manipulationen gänzlich unverdächtigen Inhaltsstoffe der biogenen Babynahrung sind ihre Hauptkomponenten: Wasser mit rund 90 und der Milchzucker Lactose mit etwa sechs Prozent Anteil an der Gesamtmasse. Alle weiteren Bestandteile - andere Zucker, Lipide, Proteine - enthalten neben reinen Nährstoffmolekülen Hunderte modulierende Substanzen.

Zum Beispiel die Proteine: Manche, vor allem das Milchprotein Casein, werden verdaut und versorgen das Kind mit den nötigen Aminosäuren. Andere sind verdauungsfest konstruiert. Sie stellen den pH-Wert des Verdauungstraktes ein, lauern auf den nächstbesten Krankheitserreger, um ihn abzufangen oder zu vergiften. Oder sie kommunizieren mit kindlichen Immunzellen und steuern so deren Reifung. Manche schließlich wirken als Wachstumsfaktoren, vor allem für die Darmschleimhaut. Ungestillte Kinder kämpfen deshalb eher mit Problemen im Verdauungstrakt bis hin zu degenerativen Krankheiten.

Keine Muttermilch ist wie die andere

Ähnlich wie Hormone entfalten solche Milch-Signalstoffe ihre Wirkung schon in geringen Mengen; entsprechend schwierig waren sie bislang aufzuspüren. Carlito Lebrilla, Zuckerchemiker an der Universität von Kalifornien in Davis, gehört zu den Forschern, die neue, besonders empfindliche Analysemethoden dazu nutzen, um die feiner dosierten Inhaltsstoffe von Muttermilch erstmals vollständig zu katalogisieren.

Er fand heraus, dass Mütter ihrer Milch ein komplexes Sortiment aus etwa 200 verschiedenen Zuckerketten beimischen. Diese sogenannten Oligosaccharide bilden das Colostrum, nach Wasser und Lactose der drittgrößte Anteil der Neugeborenenmilch. Es besteht aus kurzen, höchstens zehn Einzelmoleküle langen Kohlenhydratketten, die als Informationsträger dienen.

Solche Zuckermuster kodieren unter anderem die Blutgruppen. Transplantiertes Gewebe wird solcher Oligosaccharid-Oberflächen wegen als fremd erkannt und abgestoßen.

Isst ein Mensch Fleisch, dann bleiben die meisten Oligosaccharide der tierischen Muskelzellen unverdaut im Darm zurück - und dort stürzt sich ein Heer von Bakterien auf die Nahrungsreste. Sie gewinnen aus ihnen Energie oder nutzen sie als Baustoff für ihre Zellwände. Die Oligosaccharid-Mischung der Muttermilch scheint einem Einzeller besonders gut zu schmecken: Bifidobacterium longum infantis. Es besiedelt als eine der ersten Mikroben den Darm der Babys.
Die Milch der ersten Tage päppelt so gezielt diesen friedlichen Bewohner, der dann anderen, gefährlichen Durchfallkeimen die Nahrung entzieht.

Lebrillas Forschungen zufolge sind etwa die Hälfte der Molekülsorten in dem Oligosacchariden-Set fixer Bestand in der Milch aller Mütter. Die andere Hälfte wird individuell abgemischt. Die Mutter drückt damit ihrem Säugling ihren persönlichen Stempel auf. Denn jedes einzelne Oligosaccharid und seine jeweilige Menge zu einem bestimmten Zeitpunkt vermittelt dem Neugeborenen ein Entwicklungssignal. "Nach dem, was wir heute wissen, können sie aktiv Krankheitserreger abfangen, das Immunsystem einstellen oder sogar Signale für die Gehirnentwicklung geben", sagt Lebrilla.

Damit die Zuckerketten Einfluss aufs Immunsystem oder auf die Gehirnentwicklung nehmen können, müssen sie ihre Signale an das Innere der jeweils zuständigen Zellen weitergeben können. Es ist denkbar, dass dabei die Darmzellen die Vermittlerrolle übernehmen. Das legt jedenfalls eine Arbeit von Robert Chapkin, Biochemiker an der Texas A & M University, nahe: Er konnte nachweisen, dass sich die Genaktivität der Zellen in der Darmschleimhaut deutlich verändert, je nachdem, ob ein Kind gestillt wird oder nicht.

Stillkinder haben später einen höheren IQ

Es könnte also sein, dass die Darmzellen unter dem Einfluss von Muttermilch Signalstoffe ins Blut geben, die im Gehirn Reifungsprozesse befördern. Das würde ein Ergebnis aus Weißrussland erklären: Dort verfolgten Wissenschaftler der Weltgesundheitsorganisation WHO sechseinhalb Jahre lang den Werdegang gestillter und nicht gestillter Kinder.

Das Ergebnis fasst Michael Kramer, Epidemiologe an der kanadischen McGill-Universität, so zusammen: "In den ersten Lebensjahren gab es viele gesundheitlichen Vorteile für die gestillten Kinder. Aber die einzige Langzeitwirkung, die gemessen werden konnte, war ein Unterschied im Intelligenzquotienten." Kurz nach der Einschulung zeigten diese Kinder einen im Durchschnitt um sechs Punkte höheren Intelligenzquotienten.
Es ist schwierig, aus solchen Statistiken handfeste Schlüsse auf Ursache und Wirkung der Muttermilch zu ziehen. Denn stillende Mütter und Mütter, die lieber Fläschchen geben, sind nicht unbedingt miteinander vergleichbar. Die typische stillende Mutter einer Industrienation der Gegenwart ist reicher, gesünder und gebildeter als ihr statistisches Pendant mit Neigung zum Milchpulver. Wenn sie als typische Bildungsbürgerin ihrem Kind einfach nur öfter vorgelesen hätte, als eine Frau aus einer bildungsfernen Schicht es konnte oder wollte, dann würde es schon allein deswegen bei späteren IQ-Tests besser abschneiden.

Ein Indiz zugunsten der MuttermilchThese entdeckte Avshalom Caspi, Psychologe an der Duke-Universität in Durham. Er konnte nachweisen, dass Babys mit einer bestimmten Genvariante spezielle ungesättigte Fettsäuren aus der Milch für ihre Gehirnentwicklung dringend brauchen - Docosahexaensäure (DHA) und Arachidonsäure (AA). Sie dienen als Membranbaustoffe für ihre noch unreifen Nervenzellen.

Zusätzlich steigern diese Fettsäuren die Aktivität der günstigen Genvariante, die für ein Protein kodiert, das die beiden Säuren auch aus anderen Nahrungsfetten herstellen kann. Wie viel DHA und AA eine Mutter ihrem Kind mitgibt, hängt auch von ihrer eigenen Ernährung ab - Fisch und Meeresfrüchte haben ähnlich hohe Anteile der beiden Fettsäuren wie menschliche Gehirnzellen.
Von Makaken weiß man, dass die Mütter via Brust sogar den Charakter ihrer Kinder steuern - durch gezielte Hormongaben. Je mehr vom Stresshormon Cortisol sie ihren Söhnen in die Milch mischen, umso mehr neigen diese später dazu, Streit mit anderen Männchen anzufangen. Sie werden zu Karriereaffen. Auch hier geht es um die Enkelbilanz: Sie bekommen mehr Gelegenheiten zum Babymachen.

Bewiesen ist dieser Mechanismus für Homo sapiens noch nicht. Aber es wäre erstaunlich, wenn ausgerechnet das biologische Erbe der Menschenmütter auf diese Möglichkeit der Einflussnahme verzichten würde. Die Gene, die die Milchabmischung beim Menschen steuern, haben sich schließlich in den wenigen Jahrtausenden Zivilisation nicht verändert. Und genetisch gehören Menschen wie die Makaken zu den Altweltaffen. Sie sind Säugetiermütter, die das Stillen als letzte Gelegenheit nutzen, um das Kind in ihrem Sinne zu formen.

Quelle: http://www.faz.net/artikel/C30783/muttermilch-mamas-suesses-geheimnis-30336367.html

 

Muttermilch

Mamas süßes Geheimnis

In der Muttermilch sind zahlreiche Zuckerstoffe enthalten, von denen man noch gar nicht weiß, wozu sie gut sind. Sicher ist nur: Sie lassen sich nicht nachahmen.

Von Ulrike Gebhardt

09. Mai 2011 
Für den kleinen Moritz ist die Welt noch in Ordnung. Zufrieden liegt er an der mütterlichen Brust und saugt, was das Zeug hält. Hunger und Durst wollen gestillt werden, da kommt die energiehaltige und körperwarme Milch gerade recht. Und die Mischung stimmt ja auch: Fette, Proteine und Laktose sorgen für die Sättigung, Vitamine, Wachstumsfaktoren und Abwehrstoffe lassen den Säugling gedeihen und schützen ihn vor Infektionen.
Einige Bestandteile wird Moritz wohl kaum wahrnehmen, obwohl sie hochkonzentriert in der Muttermilch vorhanden sind: bis zu zweihundert verschiedene Mehrfachzucker, die im Vergleich zur Laktose nur leicht süßlich schmecken. Sie werden in der Brustdrüse aus fünf verschiedenen Bausteinen zusammengesetzt, die zu kurzen oder längeren, verzweigten oder unverzweigten Ketten geknüpft werden. Einmal geschluckt, widerstehen diese Humanen Milcholigosaccharide (HMO) dem sauren Milieu im Magen des Säuglings. Auch die Verdauungsenzyme können den Zuckermolekülen nichts anhaben, so dass sie unverdaut bis in den Darm rauschen.
Der Säugling profitiert auf den ersten Blick also nicht von diesen Stoffen. Warum werden sie dann überhaupt gebildet? "Wir wissen es einfach noch nicht", sagt Lars Bode von der University of California in San Diego. Im März berichtete der aus Hameln stammende Ernährungswissenschaftler auf dem Berliner "Glycan Forum" über die geheimnisvollen Milchzucker, die immerhin schon seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt sind. In der Fachwelt gibt es bislang nur Vermutungen, wozu sie dienen. "Einige Darmbakterien können sie im Gegensatz zum Menschen verdauen. Deshalb nimmt man heute an, dass diese Zucker in erster Linie wie Präbiotika wirken", sagt Bode.

Wohltätige Bakterien

Erst während und nach der Geburt wird der zunächst nahezu keimfreie Darm des Neugeborenen von einer bunten Bakteriengesellschaft bevölkert. Im Idealfall siedeln sich viele "gute" Bakterien an, die gefährlichen Mikroorganismen erst gar keinen Raum zum Gedeihen lassen. Bei gestillten Säuglingen gewinnen rasch Laktobazillen und Bifidobakterien die Oberhand; den Darm von Kindern, die mit Flaschenmilch aufwachsen, besiedelt eine etwas anders zusammengesetzte Bakteriengemeinschaft. Beim Stillen überträgt die Mutter manche Bakterien auch mit der Milch. Diese haben zum Teil eine abenteuerliche Reise hinter sich: Sie sind über die Lymphbahnen vom Darm der Mutter in deren Brustdrüse und von dort in die Milch gelangt. Nach aktuellem Wissensstand sollen gerade Bifidobakterien im sauerstoff- und nährstoffarmen Milieu des Darms wahre Wunder vollbringen: Sie schützen offenbar vor Durchfallerregern, entschärfen Gifte und wirken regulierend auf die Immunfunktion ein.
Ein wichtiger Darmbewohner von Stillkindern, Bifidobakterium longum infantis, entwickelt tatsächlich einen besonders großen Appetit auf Humane Milcholigosaccharide; er verleibt sie sich ein und verarbeitet sie zu kurzen Fettsäuremolekülen. Doch auch die Bifidobakterien schaffen es nicht, sämtliche HMO in der Muttermilch zu zerlegen. So landen teilweise bis zu neunzig Prozent der Moleküle unverändert in der Windel. Forscher wie Lars Bode glauben deshalb, dass sie noch andere Funktionen erfüllen müssen, als bloß Futter für nützliche Bakterien zu sein. "Es hängt wohl mit der Leistung des Abwehrsystems zusammen", vermutet Bode. Unangenehme Darmbesucher wie der Cholera-Erreger, Salmonellen oder das Durchfallbakterium Campylobacter jejuni können nämlich nur dann ihr Unwesen treiben, wenn sie sich über winzige Anker in der Zuckerhülle, welche die Darmoberfläche bedeckt, vergraben. "Einige Oligosaccharide ähneln nun genau den Strukturen, an die sich die Bakterien hängen", erklärt Bode. "Sie werden auf diese Weise abgefangen und aus dem Darm herausgespült." Das geschieht nicht nur im Darm, sondern widerfährt bereits ungebetenen Gästen, die sich in Mund und Speiseröhre tummeln.

Komplexe Zuckermoleküle

Da jeder Krankheitserreger seinen spezifischen Ankerplatz auf der Zuckerhülle hat, ist es durchaus sinnvoll, dass so viele verschiedene HMO-Strukturen zirkulieren. Doch von Frau zu Frau, im Laufe einer Stillperiode oder sogar während einer einzigen Stillmahlzeit kann die Zusammensetzung dieses Cocktails in der Milch variieren. Und nicht immer passt die individuelle Mischung perfekt zu den Herausforderungen durch pathogene Keime. Lars Bodes Team etwa hat Hinweise gefunden, dass manche aidsinfizierte Mütter mit einem bestimmten Zuckerprofil das Virus beim Stillen häufiger weitergeben als andere. 80 bis 85 Prozent aller Säuglinge stecken sich normalerweise nicht an, obwohl sie dem Virus über die Milch monatelang ausgesetzt sind. Vermutlich sind einige Oligosaccharide an diesem Schutzeffekt beteiligt. Zumindest hemmen sie im Labortest die Anheftung des Aidsvirus an jene zuckerbindenden Strukturen der Wächterzellen des Immunsystems, über die sich das Virus sonst Eintritt in den Körper verschaffen würde. In Bodes kalifornischem Labor versucht man nun herauszufinden, welche Zucker es genau sind, die diesen Schutz vermitteln.
Humane Milcholigosaccharide sind aber nicht nur im Verdauungstrakt aktiv. Hinweise auf weitere Einsatzorte im Körper hat jedenfalls Clemens Kunz vom Institut für Ernährungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen gefunden. Kunz untersucht seit vielen Jahren den Stoffwechsel von gestillten Säuglingen. Erstaunlicherweise und ganz entgegen bestehender Lehrbuchmeinung tauchen ein bis zwei Prozent der aufgenommenen Zuckerverbindungen intakt im Urin der Kinder auf. Offenbar wird ein kleiner Anteil von ihnen über die Darmwand aufgenommen. "Bisher ist man davon ausgegangen, dass eine solche Absorption nur bei Einfachzuckern funktioniert. Doch auch die komplexen Zucker zirkulieren nach der Aufnahme im Organismus in vergleichbaren Mengen, wie es etwa Pharmaka tun würden", sagt Kunz. Über die Frage, was die HMO dabei bewirken, kann bislang nur spekuliert werden. Laboruntersuchungen deuten auf einen bremsenden Einfluss auf Immunzellen hin, deren Aktionen ohnehin häufig von Zuckerverbindungen gesteuert werden. Ebenfalls diskutiert wird die Möglichkeit, dass die mütterlichen Zucker als Rohstofflieferanten bei der Hirnentwicklung dienen; beim Ausbau des Nervennetzes von Neugeborenen wird unter anderem Sialinsäure benötigt, die ein wesentlicher Bestandteil der HMO ist.
Die Fülle an komplexen Zuckermolekülen in der menschlichen Frauenmilch ist einzigartig. Kuhmilch und damit auch die auf der Kuhmilch basierende Flaschenmilch enthalten nur Spuren dieser Inhaltsstoffe. Deshalb fügen einige Hersteller von Flaschenmilch ihren Rezepturen als Ersatz sogenannte Galacto- (GOS) und Fructo-Oligosaccharide (FOS) bei. "Langkettige Moleküle gewinnen wir dabei aus Chicorée-Gemüse", erklärt Günther Boehm, Forschungsleiter für Babynahrung bei Danone und ehemals Leiter einer Frauenmilchsammelstelle im Osten Deutschlands. Die kurzkettigeren GOS dagegen werden synthetisch durch Enzymbehandlung aus Laktose gewonnen.

Vorsicht bei Anreicherungen

Obwohl die Ersatzstoffe wesentlich simpler aufgebaut sind als die komplexen Vorbilder, fördern auch sie das Wachstum von Bifidobakterien im Darm der Flaschenkinder. Vor fünf Jahren konnte eine Studie an 206 Mailänder Kindern mit hohem genetisch bedingtem Allergierisiko zeigen, dass Galacto- und Fructo-Oligosaccharide ähnlich wie das Stillen die Allergiehäufigkeit senken können. Während 24 von 104 Kindern in der Kontrollgruppe nach sechs Monaten eine Neurodermitis entwickelten, waren es in der Gruppe, die den Zusatz erhielten, nur zehn von 102 Kindern. "Offenbar verändert die Beimengung die Darmbesiedlung im positiven Sinne", sagt Thomas Eiwegger von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien. Warum das einer Allergie entgegenwirkt, ist allerdings unklar. Einen Effekt, den die echten Stoffe zeigen, besitzen die Ersatz-Zucker nämlich nicht: In Eiweggers Experimenten beeinflussten nur die humanen Oligosaccharide, nicht aber die künstlichen die kindlichen Immunzellen so unmittelbar, dass diese nicht mehr in Richtung Allergie agierten.
Allerdings können auch die künstlichen Zusatzstoffe zügig die Darmwand überwinden und damit rein theoretisch im Körper zirkulieren. Ob und was sie hier anrichten, ist wiederum völlig unbekannt. "Um unerwünschte Effekte auszuschließen, sind noch weitere Studien nötig", sagt Eiwegger. Als Kinderarzt sieht er bisher noch nicht genügend Beweise, eine angereicherte Flaschenmilch zur Therapie zu empfehlen; abraten würde er von einer solchen aber auch nicht, gibt sich Eiwegger diplomatisch.
Lars Bode dagegen rät gerade bei Neugeborenen zur Vorsicht, da man bisher nicht alle Effekte vorhersagen könne. Bedenklich stimmt beispielsweise die Lektüre einer drei Jahre alten Studie französischer Forscher von der Universität Nantes. Im unreifen Darm von bis zu zwanzig Tage alten Ratten hatten Fructo-Saccharide die natürliche Darmbarriere geschwächt und Salmonellenbakterien den Übertritt vom Darm in andere Körpergewebe erleichtert. "Diese Beobachtungen bei Ratten werfen die Frage auf, ob FOS bei einer so vulnerablen Gruppe wie Säuglingen mit einem noch nicht voll ausgereiften Immunsystem zum Einsatz kommen sollten", schrieb der österreichische Kinderarzt Karl Zwiauer im vergangenen Jahr dazu in einem Beitrag der Zeitschrift pädiatrie & pädologie.

Synthetisierung gegenwärtig zu teuer

Bei Clemens Kunz stößt die von manchen Herstellerfirmen offerierte Botschaft auf Unverständnis, nach der die Zusatzstoffe mit den humanen Milcholigosacchariden vergleichbar seien: "Der Einsatz an sich scheint sinnvoll zu sein, doch der Vergleich mit den HMO ist völliger Unsinn." Kunz und andere Forscher stören sich auch an der einseitigen Argumentation, die Zuckerstoffe förderten ausschließlich das Wachstum von Bifidobakterien. "Natürlich beeinflussen sie die bakterielle Zusammensetzung des Darms sehr stark. Das läuft aber nicht nur über diese Bakterienart, sondern scheint viel komplexer zu sein", sagt Kunz.
Sollte die Darmflora tatsächlich so großen Einfluss auf entscheidende Körperprozesse wie die Immunabwehr oder den Energiestoffwechsel haben, wie die Wissenschaftler inzwischen glauben, müsste der Einsatz von Präbiotika in der Nahrung eigentlich mit viel mehr Sorgfalt geprüft werden, als das bisher der Fall ist. Nur in einem Punkt sind sich die Milchforscher sicher: Die komplexen Eigenschaften der Muttermilch-Zucker werden die Ersatzstoffe niemals auslösen können. Dennoch ist man in der Forschungsabteilung von Danone gerade dabei, den Mix um ein weiteres Oligosaccharid, das aus Pflanzenmaterial gewonnen wird, zu erweitern. Mit diesem Zucker hofft man, auch den möglichen Infektionsschutz durch die echten Muttermilchstoffe nachahmen zu können.
Humane Milcholigosaccharide auf künstlichem Wege herzustellen, wird nach Lars Bodes Ansicht erst gelingen, wenn man besser versteht, wie sie in der weiblichen Brust synthetisiert werden. Gegenwärtig sind selbst Annäherungen an das Vorbild in der Herstellung zu teuer und nur mit Unterstützung von gentechnisch manipulierten Mikroorganismen vorstellbar. Doch eine Flaschenmilch mit entsprechendem Hinweis würde sich in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern wohl kaum verkaufen. Das Hauptanliegen von Bodes Team ist deshalb auch nicht die Verbesserung der Flaschenmilch. "Wir versuchen nur herauszufinden, welche Vorteile die diversen Zucker dem Säugling bringen. Mütter sollten einfach stillen, damit bieten sie ihren Kindern automatisch die beste Nahrung", sagt Bode.
Könnte Moritz sich schon dazu äußern, würde er das vermutlich genauso sehen.
Text: F.A.S.
© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2011.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen